Ein hyperaktives Kind mit Hämophilie ist eine gefährliche Mischung

01.03.2017
Patientengeschichten

Ich war ein absolut hyperaktives Kind, und das ist gefährlich, wenn man dazu noch Hämophilie hat. Ich habe die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Als ich klein war, bin ich ständig durch das Haus gerannt und herumgesprungen. Irgendwas führte ich immer im Schilde. Im Nachhinein kann ich wohl sagen, dass ich ziemlich anstrengend war. Ich hatte so viel Energie und war extrem aktiv, was zu vielen Blutungen führte. Einen Jungen wie mich großzuziehen war für meine Eltern ziemlich strapaziös und besonders schwierig war es für meine Mutter, denn ein hyperaktives Kind mit Hämophilie ist eine gefährliche Mischung.

Als Kind konnte ich meine Hämophilie nur schwer akzeptieren. Ich wünschte mir, keine Blutungen zu haben und nicht so oft ins Krankenhaus zu müssen. Manchmal musste ich tagelang am Stück dort bleiben. Es war schwierig, aber manchmal haben mir die Krankenhausaufenthalte auch Spaß gemacht, weil ich dort Videos anschauen konnte.

Die schwierigste Zeit für mich und meine Mutter war im Alter von neun bis elf Jahren. Es fiel mir nicht leicht zu lernen, mir mein FVIII-Präparat selbst zu spritzen. Es ist echt hart für einen jungen Menschen, sich selbst zu infundieren. Für meine Mutter war es sehr schwierig, sich um alles zu kümmern und mit einem Kind zurechtzukommen, das einfach nicht auf sich aufpassen wollte. Ich erinnere mich, wie ich allein in meinem Zimmer saß und weinte. Ich war so frustriert. Ich konnte nicht mit meinen Freunden Fußball spielen, dabei wünschte ich es mir so sehr. Aber es war einfach zu gefährlich, vor allem weil mein Knöchel besonders anfällig für Blutungen war. Alle meine Sportlehrer wussten von meiner Krankheit, was bedeutete, dass ich bei manchen Sportstunden nicht mitmachen durfte. Ich war total wütend, dass ich nicht wie alle anderen sein durfte.

Ich wuchs in dem Glauben auf, meine Hämophilie sei mittelschwer, aber vor kurzem sagte mir mein Arzt, dass ich schwere Hämophilie habe. Anscheinend habe ich nicht mehr so viel Faktor-VIII-Aktivität wie früher. Mein älterer Bruder hat milde Hämophilie und er is eigentlich ganz normal. Heute hat er seinen Traumjob – er ist Zugführer. Ich freue mich für ihn. Er hatte als Heranwachsender nicht dieselben Probleme wie ich. Er musste nie prophylaktisch behandelt werden. Außerdem war er vom Typ her viel ruhiger als ich. Ich war die große Herausforderung für meine Mutter.

Wenn ich die Wahl hätte, wäre es mir lieber, wenn in Zukunft die Behandlung mit Gerinnungsfaktorkonzentraten überall auf der Welt besser verfügbar wäre, als wenn es eine Pille gäbe, diese aber nur in Europa zur Verfügung stehen würde.

Mein Großvater hatte auch Hämophilie und er war ein wunderbarer Mensch. Ich weiß, dass er nicht die Möglichkeit hatte, die notwendige Behandlung zu bekommen. Wenn er heute noch leben würde, würde er sich sehr über die mittlerweile existierenden Medikamente freuen und über all die Fortschritte, die seither gemacht wurden. Wir, die junge Generation, sollten all das zu schätzen wissen, was uns heute zur Verfügung steht. Vielleicht würdigen wir das manchmal einfach nicht genug, denke ich mir. In meinem Leben musste ich schon einige Probleme meistern, aber es gab nie eine Situation, in der ich eine Blutung hatte und es keine Behandlung für mich gab. Leider nehme ich meine Medikamente als selbstverständlich hin.

Eigentlich sollte ich meine Prophylaxe ein- oder zweimal pro Woche durchführen, aber manchmal habe ich dafür keine Zeit oder ich habe einfach keine Lust darauf. Ich empfinde das Spritzen dieses Medikaments als eine Last. Eine blöde Einstellung, ich weiß. Ich weiß ja auch, dass es wichtig ist, die Medikamente zu nehmen, um weiterhin geschützt zu sein. Aber wenn man jung ist, passt man manchmal nicht ganz so gut auf sich auf, wie man eigentlich sollte.

Heute führe ich ein fast normales Leben, abgesehen von Blutungen in meinem blutungsgefährdeten Knöchel. Mein Fuß schwillt von innen an und wird blau, und wenn es ganz schlimm ist, kann ich nicht mehr gehen. Ich engagiere mich sehr in der Deutschen Hämophiliegesellschaft. Ich bin dort Jugendvertreter für Schleswig-Holstein und bin im Jugendrat. Diese Tätigkeit macht mir viel Spaß und hat für mich einen emotionalen Wert. Wenn man so viel Zeit mit anderen Betroffenen verbringt, baut man eine tiefe und innige Beziehung auf. Mein Engagement begann im Ferienlager, an dem ich ab dem Alter von neun Jahren bis zu meinem 18. Geburtstag fast jedes Jahr teilnahm. Dort lernt man viele Kinder mit Hämophilie kennen und merkt, dass man nicht alleine ist. Als ich älter wurde, arbeitete ich mehr und mehr bei der Organisation des Ferienlagers mit und mir wurde auch mehr Verantwortung übertragen. Die Ferienlager waren echt spitze. Ich kann sagen, dass sie zu den schönsten Zeiten in meinem Leben gehören.

Ich habe am Weltkongress der World Federation of Hemophilia (WFH) in Orlando und Paris teilgenommen. Diese Veranstaltungen sind eine wirklich tolle Erfahrung. Man bekommt die Chance, Menschen aus der ganzen Welt kennenzulernen. Ich fände es toll, wenn der Großteil aller Hämophiliepatienten Zugang zu Präparaten hätte. Heute sind das nur 25%. Wenn ich die Wahl hätte, wäre es mir lieber, wenn in Zukunft die Behandlung mit Gerinnungsfaktorkonzentraten überall auf der Welt besser verfügbar wäre, als wenn es eine Pille gäbe, diese aber nur in Europa zur Verfügung stehen würde.

Ich bin Musiker und spiele seit meinem elften Lebensjahr Gitarre. Weitere Hobbys sind Lesen und kreatives Schreiben. Kürzlich war ich mit einem Freund, den ich im Ferienlager kennengelernt hatte, in den Bergen wandern. Die Tatsache, dass zwei junge Typen mit Hämophilie überhaupt wandern gehen können, zeigt doch, was durch die moderne Behandlung möglich wird. Ich würde einem jungen Hämophiliepatienten raten, sich aktiv am Austausch mit uns anderen Betroffenen zu beteiligen, weil wir ihn brauchen. Ich würde ihm sagen, dass er seine Behandlung nicht als selbstverständlich erachten sollte. Lebe das Leben, das du dir wünschst, weil dir die heute verfügbaren Medikamente diese Freiheit geben.

Wir sollten der Krankheit nicht so viel Macht über unser Leben geben. Man kann trotz Hämophilie ein glückliches Leben führen.

Susanne, Janniks Mutter


Als meine Söhne geboren wurden, wusste ich, dass sie Hämophilie haben könnten. Das ist bei uns normal. Hämophilie gibt es ungefähr seit dem 18. Jahrhundert in unserer Familie. Mein Vater hatte Hämophilie und wuchs in einer Zeit auf, als keine Behandlung gab und die Krankheit noch nicht sehr bekannt war. Ärzte glaubten, dass Vitamin C und der Verzehr vieler Erdnüsse Abhilfe schaffen würden. Kindern sagte man, sie dürften keinen Sport treiben und nach Verletzungen lagen sie oft wochenlang im Bett.

Mein Vater wollte Koch werden; das durfte er aber nicht, weil das bedeutet hätte, dass er mit scharfen Messern hätte hantieren müssen. Mein Vater hatte gelernt, Ärzten nicht immer zu vertrauen. Er glaubte, dass man mit größerer Wahrscheinlichkeit im Krankenhaus sterben würde als wenn man sich selbst zu Hause behandelt. Sogar Zahnärzte trauten sich nicht, ihn zu behandeln. Sein Bruder verlor in jungen Jahren nach einer Schnittverletzung ein Bein – die Blutung ließ sich einfach nicht stoppen. Als mein Vater 1980 zum ersten Mal ein Faktorkonzentrat erhielt, wurde er mit Hepatitis C infiziert. Ich hatte ihn überredet, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen, damit sein Nasenbluten aufhörte. Ich hatte danach lange Zeit Schuldgefühle.

Die Bindung zwischen Mutter und Sohn ist meistens ziemlich stark und die meisten Mütter verspüren ein Schuldgefühl, wenn sie Träger dieser Krankheit sind. Auch wenn man weiß, dass man es nicht ändern kann und dass man es sich ja nicht so ausgesucht hat, sieht es in einem drin doch anders aus.

Ich hatte erwartet, dass mein jüngerer Sohn Jannik ebenfalls milde Hämophilie haben würde, so wie sein älterer Bruder, aber bei seiner Geburt sagte ein unerfahrener Arzt: „Lassen Sie ihn nicht schreien, sonst bekommt er Hirnblutungen.“ Obwohl ich wusste, dass das nicht stimmt, verunsicherte er mich sehr. Ich war schockiert. Ich erwiderte, dass das nicht sein kann, weil jeder in der Familie immer milde Hämophilie hatte. Jannik galt immer als mittelschwerer Bluter. Erst vor kurzem zeigte sich , dass er doch eine schwere Hämophilie hat.

Ich hatte nicht erwartet, dass Jannik während seiner Kindheit so viele Blutungen haben würde. Man konnte aufgrund seiner Hyperaktivität nie wissen, was als nächstes passieren würde. Zu Hause zu sein war manchmal so, als wäre man in der Notaufnahme. Es wurde einfach zu viel für mich. Ich fühlte mich ausgebrannt. Mein Mann konnte mich nicht viel unterstützen. Er konnte kein Blut sehen und hat sich ziemlich rausgehalten. Als Jannik 10 Jahre alt war, bin ich mit meinen Söhnen für 4 Wochen in eine Rehaeinrichtung gefahren. Ich fühlte mich erschöpft und habe während der Zeit die Injektionen den Ärzten überlassen. Im Jahr darauf wollte ich, dass Jannik endlich lernt, sich selber zu spritzen. Aber er sagte: „Entweder du machst es oder keiner.“ Mit Hilfe einer ambulanten Pflege lernte Jannik mit elf Jahren, sich selber die Injektionen zu verabreichen. Was für eine Erleichterung!

Im Jahr 2009 bauten wir ein Netzwerk für Familien mit Hämophilie aus ganz Deutschland auf. Das Netzwerk besteht aus Familien, die einander Hilfe bieten und ein offenes Ohr schenken. Drei Jahre lang war ich Vorstandsmitglied der Deutschen Hämophiliegesellschaft. In dieser Zeit habe ich viel gelernt. Im November bin ich aus dem Vorstand zurückgetreten und konzentriere mich voll und ganz auf das Netzwerk.

Ich bin leitende Fachkraft in der ambulanten Pflege. Wir unterstützen Patienten und Familien mit hämophilen Kindern in der Therapie und schulen sie in der Heimselbstbehandlung. Zurzeit kommen viele Flüchtlinge mit Hämophilie nach Deutschland. Manche von ihnen hatten noch nie Zugang zu einer Behandlung und bei manchen haben sich nach einer Behandlung Inhibitoren gebildet. Diese Menschen haben es sehr schwer und es gibt auch einige sprachliche Hürden. Wir versuchen, uns einen Weg durch das Chaos zu bahnen und ihnen zu helfen.

Wir sollten der Krankheit nicht so viel Macht über unser Leben geben. Man kann trotz Hämophilie ein glückliches Leben führen. Wenn man Hilfe von anderen annehmen kann, wird vieles einfacher. Ich bin schon gespannt auf die Entwicklungen in der Zukunft und hoffe, dass die Krankheit bald noch besser zu behandeln sein wird.

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Immunology